HT 2021: Visualisierung historischer Daten – Chancen und Risiken

HT 2021: Visualisierung historischer Daten – Chancen und Risiken

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Florian Windhager, Department für Kunst- und Kulturwissenschaften, Universität für Weiterbildung Krems

Datenvisualisierungen zählen zu den auffälligsten Innovationen im Forschungs- und Entwicklungsfeld der digitalen Geisteswissenschaften. Die zunehmende Verfügbarkeit von kulturwissenschaftlichen und historischen Daten – Resultat von umfangreichen Digitalisierungsinitiativen in Archiven, Bibliotheken, Museen und Quellensammlungen – erlaubt neben neuen Formen der algorithmischen Analyse auch deren Veranschaulichung mit multiplen bildgebenden Verfahren zum Zweck der Wissensgewinnung und Wissensvermittlung.1 Interaktive Karten, Netzwerkdiagramme, Zeitstrahlen, Baumkarten oder statistische Diagramme – oft auch in Kombinationen als "koordinierten Ansichten" – können komplementär zur Lektüre von historischen Texten innovative Einblicke und Überblicke schaffen. Dies kann von besonderem Mehrwert sein für das Studium von größeren Korpora und Quellensammlungen, sowie für jene komplexen Gegenstände der Forschung, die sich durch ihre Verteilung in multiplen Wahrnehmungs- und Beschreibungsdimensionen der Analyse durch das freie Auge immer schon entziehen. HistorikerInnen sind mit einem besonders großen und anspruchsvollen Spektrum dieser “Hyperobjekte” vertraut und könnten vor diesem Hintergrund auch besonders von der Instrumentalisierung der neuen Methoden in Bereichen der Wissensgewinnung und Wissensvermittlung profitieren 2.

Während aber manchmal schon die Rezeption von Visualisierungen interpretative Kompetenzen jenseits des klassischen geisteswissenschaftlichen Ausbildungsspektrums fordert, so gilt dies umso mehr für deren Erstellung, Anwendung und methodologische Weiterentwicklung. Vor diesem Hintergrund erfolgt die fachspezifische Anpassung und Neuentwicklung von Visualisierungsmethoden und -werkzeugen für geschichtliche Daten bis auf weiteres in interdisziplinären Konstellationen der Zusammenarbeit von informatischer und historischer Forschung. Das Panel zur Visualisierung historischer Daten widmete sich der Erkundung solcher Kollaborationen, um assoziierte Chancen und Risiken exemplarisch zu diskutieren.

DOROTHEA WELTECKE (Berlin) und RALPH BARCZOK (Frankfurt am Main) eröffneten die Veranstaltung mit einem Erfahrungsbericht zur Visualisierung von religiöser Vielfalt und Kohabitation im Mittelalter. In diesem Kontext ist von einem Defizit historischer Karten auszugehen, welche mit ihren relativ simplen Farbcodierungen das historisch bekannte, weit verbreitete Zusammenleben (z.B. von Juden, Christen und Muslimen) in multireligiösen Topographien bislang nicht ausreichend darzustellen vermochten. Im Projekt “Dhimmis and Muslims” wurde in der Folge gemeinsam mit der Universität Stuttgart das Visualisierungstool DAMAST entwickelt, das solche Phänomene der Kohabitation durch lokale Kombinationen von religiösen Piktogrammen für 450 Städte des historischen Nahen Ostens darstellen kann. Die geo-temporale Visualisierung dieser Daten ermöglicht verschiedene Formen der interaktiven Abfrage, Filterung und Darstellung von regionalen Ereignissen in einem größeren Zusammenhang, sowie die Exploration von räumlichen und zeitlichen Mustern in der implikationsreichen Entwicklung von Glaubenspräferenzen, was auch ein neues Licht auf die komplexen politischen Beziehungsdynamiken von Populationen des historischen ‚Nahen Ostens‘ werfen kann.

Als Entwickler des DAMAST-Tools vertiefte STEFFEN KOCH (Stuttgart) die Reflexion über Chancen und Risiken der historischen Datenvisualisierung aus computerwissenschaftlicher Perspektive. Die vielfältigen Möglichkeiten der visuellen Analyse wurden von ihm auch anhand des “Oceanic Exchanges”-Projekt veranschaulicht, welches die transatlantische Verbreitungsdynamik von Zeitungsnachrichten im Zeitraum von 1840-1914 in den Blick nimmt. Auch für diesen Forschungsgegenstand erwies sich ein geo-temporaler Visualisierungs- und Analyserahmen als produktiv, in den nicht-geographische, abstrakte Datenaspekte (wie die Dynamik von Nachrichtenthemen) integriert wurden. Besondere Herausforderungen solcher Tool-Entwicklungen im historischen Kontext ergeben sich aus der oftmals heterogenen Provenienz und Konfidenz von zigtausenden Datenpunkten, aus historisch sich verändernden Territorien im kartographischen Bezugsrahmen, aus der Notwendigkeit von Transparenz bezüglich Datenqualität und algorithmischer Verarbeitung, aus der kollaborativen Entwicklung von interdisziplinären Forschungsfragen und Antwortstrategien, sowie aus der Sicherstellung von Nachhaltigkeit und Nachnutzung der erarbeiteten Daten und Tools.

KURT FRANZ (Tübingen) entwickelte im Anschluss Überlegungen zum Desiderat einer historisch-kritischen Kartographie am Beispiel nahöstlicher Kreuzfahrerburgen. HistorikerInnen verfügen im Allgemeinen über eminente Expertise im kritischen Umgang mit schriftlichen Quellen, welche im gleichen Ausmaß auch auf Karten als visuelle Artefakte angewendet werden sollte. So stehen den Stärken von Karten – wie etwa der effizienten, synoptischen Zusammenführung von distribuierter und heterogener Information – immer auch Risiken gegenüber, wie zum Beispiel eine unmittelbare, ästhetisch-präkognitive Gesamtwirkung, sowie erstmals unbekannte formale Konventionen die sich als kartographische Dispositive in jede Einzelkarte einschreiben. Entsprechende rezeptive Effekte sollten als potentielle Deformationen von historischer Erkenntnis durch eine kartographische Kritik balanciert werden und durch eine diagrammatische Dekonstruktion und Rekonstruktion von visuell-kognitiven Konventionen wettgemacht werden. Bei der Untersuchung dieses meist impliziten Zusammenspiels von gestalterischen und interpretativen Konfigurationen würde auch die empirisch Wirkungsforschung eine zentrale Rolle spielen, was jedoch noch zu selten realisiert wird. Ausgehend von der Idee einer historisch-kritischen Geographie wäre jedenfalls eine analoge kritische Visualisierungsforschung ein Desiderat, welche generative und rezeptive Rahmenbedingungen von Visualisierungen transparent macht, und welche zum Wohle zukünftiger InterpretInnen Dimensionen wie Datenherkunft, Verarbeitungsschritte, Projektionsmethoden, visuelle Syntax, Verlässlichkeiten und Konfidenzlevels expliziert.

STEFAN JÄNICKE (Odense) sprach abschließend über künftige Ziele des Visualisierungsdesigns in den digitalen Geisteswissenschaften, welches durch seinen Umgang mit verhältnismäßig unvollständigen, inhomogenen und unsicheren historischen Daten auch die informatische Visualisierungsforschung vor neue Herausforderungen stellt. Ein prinzipielles Plädoyer galt hierbei nutzerzentrierten und problemorientierten Designprozessen, welche über enge Kollaboration und Kommunikation erst jene fachlichen Intersektionen generieren können auf denen informatische und historische Forschungsinteressen in hybride Fragen, Sprachen und Studien zusammengeführt werden können. Visualisierungen von geisteswissenschaftlichen Daten und Themen sollten des Weiteren close und distant reading-Prozesse unterstützen. Sie sollten trotz ihrer unmittelbaren Ästhetik vor allem auch Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit für ExpertInnen vermitteln, unter anderem durch die Transparenzmachung von Datenqualität und Provenienz. Dies gilt insbesondere auch für Projekte mit intermediären Prozessen des Machine Learnings. Abschließend wurde auf ein Projekt verwiesen, das historische Karten mit kontemporären Projektionen verknüpfte und so die Analyse von gefalteten, sowie unter- oder überrepräsentierten Regionen unterstützte – und somit einen Einblick in die Konstruktion des geographischen Blicks in verschiedenen Zeitaltern ermöglichte.

Wie ein Interface von “koordinierten Ansichten” verknüpfte und vermittelte das Panel fünf verschiedene Perspektiven zu einem Thema von steigender Relevanz und Prominenz. Visualisierungen in den Kultur- und Geschichtswissenschaften können nicht nur für HistorikerInnen neue An- und Einsichten erschließen, sondern auch neue Potentiale für die informatische Forschung. Freilich konnten von dieser transdisziplinären Thematik nur einzelne Themenstränge sondiert werden, welche mittlerweile produktiv in eigenen Konferenz-Serien reflektiert werden3. Der Diskussion auf dem Historikertag wäre aber schon alleine deshalb eine Fortsetzung zu wünschen, weil sich erst in forcierten Kontexten der kritischen fachlichen Debatte ein nuanciertes Verständnis der neuen Technologien gewinnen lässt, und ein Verständnis über erfolgsversprechende Varianten des künftigen, “post-digitalen” Zusammenspiels von hermeneutisch-kritischen und algorithmischen Prozeduren und Methoden der informatisch gestützten Geschichtswissenschaft.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Dorothea Weltecke (Berlin)

Dorothea Weltecke (Berlin) / Ralph Barczok (Frankfurt am Main): Vielfalt sichtbar machen – zur multireligiösen Topographie des Mittelalters

Steffen Koch (Stuttgart): Interaktive Visualisierung von geschichtswissenschaftlichen Daten – Chancen und Risiken

Kurt Franz (Tübingen): Das Auge denkt mit. Ästhetik und historisch-kritische Kartographie am Beispiel der nahöstlichen Kreuzfahrerburgen (1260–1335)

Stefan Jänicke (Odense): Visualisierungsdesign in den digitalen Geisteswissenschaften

Anmerkungen:
1 Siehe exemplarisch den “DataVizCatalogue” unter https://datavizcatalogue.com/
2 David J. Staley, Computers, visualization, and history: How new technology will transform our understanding of the past. London, New York 2015.
3 Adam J. Bradley u.a., Visualization and the digital humanities. IEEE computer graphics and applications, 38 (6) 2018, S. 26–38.


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts